Sturzrisiko
Wie ist das Sturz-Risiko definiert?
Kohortenbezogenes Sturzrisiko
"Das Sturzrisiko bezeichnet die Wahrscheinlichkeit, dass Personen innerhalb eines bestimmten Zeitraums einen Sturz erleiden.
- Angaben zum Sturzrisiko basieren auf epidemiologischen Studien, in denen die Häufigkeit des Auftretens von Stürzen in einer definierten Gruppe innerhalb eines bestimmten Zeitraumes (je nach Studiendesign Periodenprävalenz oder Inzidenz) untersucht wurde.
- Entsprechende Ergebnisse, z.B. ein Sturzrisiko von 30% innerhalb von zwölf Monaten beziehen sich somit immer auf eine Gruppe von Personen mit bestimmten Merkmalen und stellen eine Schätzung über das Sturzrisiko in dieser Population dar -
- das individuelle Sturzrisiko kann niedriger oder auch höher sein." (DNQP 2013b S. 13)
Die kumulierte Sturzinzidenz (z.B. 30% innerhalb von 12 Monaten) gibt in der Regel den Anteil an Personen an, die innerhalb des betrachteten Zeitraums mindestens einmal gestürzt sind bzw. als Prognose vermutlich mindestens einmal stürzen werden. Die Anzahl der Stürze, die einzelne Personen in diesem Zeitraum erlitten haben bzw. erleiden können bleibt dabei unberücksichtigt.(DNQP 2013b S. 13)
Die Inzidenzdichte erfasst die Anzahl aller Stürze über alle untersuchten Personen und den beobachteten Zeitraum Pro Person hinweg und wird als Sturzrate pro Personenzeit wiedergegeben, beispielsweise 50 Sturze pro 100 Patientenjahre, was gleichbedeutend ist mit 50 Stürzen pro 100 Patienten pro Jahr. Diese Risikoeinschätzung spiegelt die beobachtete bzw. zu erwartende Häufigkeit von Stürzen wieder - nicht aber die Verteilung der Sturzhäufigkeit (Anteil der Personen ohne Sturz sowie mit einem, zwei oder mehr Stürzen) innerhalb der Personengruppe.(DNQP 2013b S. 13-14)
Individuelles Sturzrisiko
In der Präambel benennt der DNQP das Sturzrisiko als "Im vorliegenden Expertenstandard ist mit Sturzrisiko grundsätzlich das erhöhte Sturzrisiko gemeint, das über das alltägliche Risiko zu stürzen, hinausgeht" (DNQP 2013a, S. 20). Diese Definition findet sich auch in der NANDA-I wieder (Luzia et al. 2014, S. 263).
Begriffs-Problematisierung: Gefahr vs Risiko
- Dieser Begriff des "Sturzrisikos" kann durch eine Abgrenzung zwischen "Gefahr" (entscheidungsunabhängig) und "Risiko" (entscheidungsbezogen) problematisiert werden (vgl. Schulenburg und Nida Rümelin 2013, S. 24).
- So birgt ein rutschiger Boden eine Sturzgefahr -
- während die Entscheidung, diesen Boden zu betreten ein Sturzrisiko mit sich bringt.
- Unklar bleibt auch, ob das Risiko (umfassender Risikobegriff) auf das Ausmass des Schadens bezieht - oder die Eintrittswahrscheinlichkeit (vgl. Schulenburg und Nida Rümelin 2013, S. 26). Wächst das Risiko also, wenn das Ausmass des Schadens steigt - oder wächst es allein durch die Häufigkeit?
- Die kummulierte Sturzinzidenz und die Inzidenzdichte sind dagegen klar. Sie beziehen sich auf die Eintrittswahrscheinlichkeit.
Tests zur Einschätzung des Sturzrisikos (und deren Interpretation)
- Timed Up and Go [TUG] (vgl. Richter 2017, S. 110)
- >10 Sek. = Alltagsmobilität uneingeschränkt, keine Sturzgefahr
- 11-19 Sek. geringe Mobilitätseinschränkung, oft noch ohne Alltagsrelevanz
- 20-29 Sek. = abklärungsbedürftige, funktionell relevante Mobilitätseinschränkung
- Tinetti-Test [Motilitätstest nach Tinetti, Performance Oriented Mobility Assessment (POMA)] (vgl. Richter 2017, S. 111)
- Punktzahl Gleichgewicht max. 15 und Punktzahl Gang max.13.
- Gesamt: 28 = kein Hinweis auf Gang-/ Gleichgewichtsprobleme;
- < 20 Punkte: erhöhtes Sturzrisiko;
- < 15 Punkte: deutlich erhöhtes Sturzrisiko.
- Berg Balance Scale [BBS] (vgl. Richter 2017, S. 112)
- Bei sehr gutem Gleichgewichtsvermögen kann der Patient maximal 56 Punkte erreichen.
- 0–20 Punkte = auf Rollstuhl angewiesen/ hohes Sturzrisiko;
- 21–40 Punkte = Gehen mit Hilfe/Hilfsmittel/ mittleres Sturzrisiko;
- 41–56 Punkte = unabhängig/geringes Sturzrisiko
- Chair Rising Test [CRT, Chair-Stand up, Stuhl-Aufsteh-Test] (vgl. Richter 2017, S. 113, 116)
- Es besteht erhöhte Sturzgefahr, wenn der Patient mehr als 12 Sekunden für fünfmaliges Wiederholen oder mehr als 9 Sekunden für dreimaliges Wiederholen benötigt.
- Normwerte (Alter: Männlich / Weiblich)
- 60–69 Jahre: 8,4 Sek. / 12,7 Sek.
- 70–79 Jahre: 11,6 Sek. / 13,0 Sek.
- 80–89 Jahre: 16,7 Sek. / 17,2 Sek.
- 90–110 Jahre: 19,5 Sek. / 22,9 Sek.
- Progressive Standpositionen / Tandemstand Test des geriatrischen Basis-Assessments (vgl. Richter 2017, S. 117-118)
- Kann der Semitandemstand (Großzeh des hinteren Fußes neben der Ferse des vorderen Fußes) keine 10 Sekunden gehalten werden, hat der Patient deutliche Gleichgewichtsstörungen, und es besteht erhöhte Sturzgefahr.
- Dynamic Gait Index [DGI] (vgl. Richter 2017, S. 121)
- Es können maximal 24 Punkte erreicht werden.
- 24–22 Punkte: sicheres Gehen möglich;
- > 19 Punkte: erhöhte Sturzgefahr.
Assessments, die nach der Sturz-Historie fragen:
- Geriatrisches Screening nach Lachs
- Sobald eine Antwort auf gewisse Risiken oder Probleme hinweist, sollte eine weitere Abklärung eingeleitet werden.
- DNQP - Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (2020) Expertenstandard "Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege"
- DNQP - Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (2013a) Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege. 1. Aktualisierung 2013. Auszug aus der Veröffentlichung.
- DNQP - Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (2013b) Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege. Langfassung der Literaturanalyse
- Mayer, Gabriele (2021) Sturzrisiko-Assessment bei älteren Menschen. Ritual oder wissenschaftlich begründet?
- Richter, Katja (2017) Assessment in: "Der ältere Mensch in der Physiotherapie"
- Melissa de Freitas Luzia; Marco Antonio de Goes Victor; Amália de Fátima Lucena (2014) Nursing Diagnosis Risk for falls: prevalence and clinical profile of hospitalized patients
- Schulenburg, Johann; Nida-Rümelin, Julian (2021) Risikobeurteilung/Risikoethik in: "Handbuch Technikethik"
- Katrin Balzer, Martina Bremer, Susanne Schramm, Dagmar Lühmann, Heiner Raspe (2012) Sturzprophylaxe bei älteren Menschen in ihrer persönlichen Wohnumgebung